Innovative Orgelanlage

Die neue zweiteilige Orgelanlage beschallt den mittelalterlichen Kirchenraum von zwei Orten gleichzeitig. Beide Teilinstrumente – Hauptorgel- und Chororgel – bilden zusammen ein hervorragendes,  innovatives Konzertinstrument mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten.

Planung und Bau einer neuen Orgel ist Teamarbeit im fortwährenden Abstimmungsprozess. Neben Bauherrn, Denkmalbehörde und Orgelsachverständigen arbeiten maßgeblich zwei Gewerke Hand in Hand.

Der Architekt konzipiert das Instrument für die vorgegebene Architektur, berücksichtigt Blickachsen und Klangbeziehungen und entwirft das äußere Erscheinungsbild: die Front (Orgelprospekt) und das Gehäuse. Optik, Akustik und Funktionalität bestimmen die Form. Jede Kirche ist anders, daher ist jede Orgel ein Unikat – mit unverwechselbarem Charakter. Auch die neue Orgelanlage für St. Reinoldi wird einzigartig. Der Orgelbauer widmet sich dem „Innenleben“ des Instruments. Ein Team aus Orgelkonstrukteuren baut Pfeifenreihen, Ventile, Windkammern etc. sowie den Spieltisch (oder mehrere) mit Tastaturen, Registerzügen, Notenpult und weiterem Zubehör.

Einstimmung auf das Zusammenspiel

Das fertig aufgebaute Instrument wird vor Ort gestimmt: Nach der Installation in der Kirche prüfen Orgelbaumeister und weitere Experten den Klang jeder einzelnen Pfeife und das Zusammenspiel aller Raumelemente. Hier und da wird nachgearbeitet, neu intoniert. Das Ziel: ein sauberer, ausgeglichener Klang an jedem Punkt im Kirchenraum. Klang, Architektur und Technik sind zu harmonisieren. Orgelbau ist große Handwerkskunst mit langer Tradition – die Liebe zum Instrument vereint mit technischem Know-how, Materialkenntnis und höchster Präzision in der Bearbeitung.
Die Ausschreibung zum Bau einer neuen Orgel für St. Reinoldi gewann ein Tandem aus Orgelbau-Werkstätte und Architekturbüro, das sein Können und seinen Teamgeist schon in zwei gemeinsamen Orgelbauprojekten unter Beweis stellte. Die Musik steht dabei im Mittelpunkt: St. Reinoldi bekommt eine Mühleisen-Orgel.

Mühleisen – Werkstätte für Orgelbau in Leonberg

Gegründet wurde die international renommierte Werkstätte für Orgelbau Mühleisen 1986 im schwäbischen Leonberg von Konrad Mühleisen, Sohn und Neffe von Orgelbaumeistern. 2008 gab er sein Unternehmen an eine junge Geschäftsleitung ab, die es in seinem Sinne weiterführt: offen für stetige Weiterentwicklung des tradierten Kunsthandwerks. Derzeit arbeiten 23 Meister und Gesellen und eine Auszubildende in der Werkstätte in Leonberg – oder beim Kunden vor Ort, in Kirchen weltweit. Instrumente aus dem Hause Mühleisen stehen nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch in Ungarn (Budapest), Norwegen (u. a. in Arendal, Drammen und Tromsø), in Polen und in Estland.

„Wir möchten, dass unsere Orgeln ihre Zuhörer klanglich umarmen, weshalb wir vor allem auf warme und charaktervolle Grundstimmen Wert legen, die als angenehmes und tragfähiges Fundament des gesamten Klanggebäudes angelegt sind.“
Werkstätte für Orgelbau Mühleisen


120 Orgelneubauten verzeichnet Mühleisen in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens, dazu eine ähnliche Anzahl an Umbauten/Revisionen bestehender Orgeln sowie etliche Restaurierungen. Die neue Orgel für St. Reinoldi mit ihren 63 Registern, 4 Manualen und Pedal sowie mit einer eigenständigen Chororgel rechnet die Werkstätte zu ihren Großprojekten. Vergleichbare Neubauten realisierte Mühleisen in den letzten Jahren in Karlsruhe (St. Bernhard), Düsseldorf (St. Antonius), Köln-Sülz (St. Nikolaus) und Bamberg (St. Stephan).
Umfangreiche Referenzliste mit vielen Fotos: www.orgelbau-muehleisen.de

Architekturbüro Bernhard Hirche, Hamburg

Der Schwerpunkt des Hamburger Architekturbüros Prof. Dipl.-Ing. Bernhard Hirche liegt auf Planung und Entwurf. Zahlreiche Wettbewerbserfolge belegen Hirches Vielfalt und Kompetenz. Der Architekt kann ein vielseitiges Portfolio vorweisen: von Einfamilienhäusern über Bauten für Verwaltung, Industrie, Kultur, Hochschule bis hin zu Innenraumgestaltung, Objekt- und Möbeldesign. Auch Orgeldesign zählt dazu.
Im Fokus von Prof. Hirches Schaffen steht das Spezialgebiet „Bauen im Bestand“ – besonders Umnutzung, Restaurierung und Erweiterung von Kirchenbauten. In denkmalpflegerischer Auseinandersetzung mit historischer Bausubstanz entwickelt er für Umbauten Lösungen, die alle historischen und neuen Elemente berücksichtigen.

„Die Reinoldikirche mit ihrer im Verhältnis zur Breite der drei Schiffe relativ geringen Höhe verlangt eine Vertikalisierung des Raumes durch die Gestaltung der Orgeln, die aufstrebenden Dienste der Gewölbe unterstützend. Durch den Überstand der Pfeifen und den Durchblick zwischen den oberen Pfeifenenden wird eine wandartige Wirkung des Prospektes vermieden.“
Architekturbüro Bernhard Hirche


Diesen Ansatz verfolgt Bernhard Hirche von Karrierebeginn an: Anlass der Eröffnung seines Architekturbüros 1980 in Hamburg war der Gewinn des Wettbewerbs um den Wiederaufbau der Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel. Aufgrund seiner Erfahrungen im Kirchenbau und der Denkmalpflege war Hirche lange Jahre Mitglied im Bauausschuss der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und im Hamburger Denkmalrat sowie seit 1991 Professor für Architektur an Hamburger Hochschulen, zuletzt an der 2006 neu gegründeten HafenCity Universität. Details: www.architekt-b-hirche.de

Bewährtes Team

Die Reinoldi-Orgel ist mittlerweile das dritte Kooperationsprojekt der Werkstätte für Orgelbau Mühleisen und des Architekturbüros Prof. Hirche: nach dem Orgelneubau für die Kirche am Rockenhof in Hamburg-Volksdorf (bis 2002) und dem bedeutenden gemeinsamen Großprojekt Stiftskirche Stuttgart.
Die historische Stiftskirche mitten in der Innenstadt Stuttgarts (Hauptkirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg) erhielt im Zuge einer kompletten Umgestaltung des Innenraums 2004 die bislang größte Mühleisen-Kirchenorgel mit 4 Manualen, 85 Registern und weit über 5.000 Pfeifen. Auf das Instrument abgestimmt, entwarf Architekt Hirche eine bemerkenswerte neue, moderne Deckenkonstruktion für die Stiftskirche – mit eingespannten Akustiksegeln aus Glas. Für die Reinoldi-Orgel plant Hirche eine gläserne Rückwand mit ähnlicher Funktion als Schallreflektor.

Bauabschnitt 1

Chororgel

zur Begleitung von Gottesdiensten, Chorkonzerten und kleinen Formaten

  • ŸJuni 2020: Installation der skulpturalen Chororgel unterhalb derFensterrosette im südlichen Seitenschiff
  • ŸJuli bis September 2020: Bau der Chororgel mit frei beweglichemelektronischem Spieltisch
  • ŸOktober 2020: vierwöchige Intonation der Chororgel

Die Gestalt der Chororgel

Die neue Chororgel ist der erste Teil eines musikalischen Gesamtkonzeptes für die Reinoldikirche – zusammen mit der neuen Hauptorgel auf der Empore zwischen Mittelschiff und Turmkapelle. Prof. Bernhard Hirche berichtet über sein architektonisches Konzept.

 

Für den Standort der Chororgel innerhalb der Kirche kam nur das östliche Joch des südlichen Seitenschiffs als Ort in Betracht. Das nördliche Seitenschiff wurde wegen des Zugangs zur Sakristei am östlichen Ende und der schlechten Sichtbarkeit vom Südwesteingang aus verworfen. 

Die Joche am Ende des Seitenschiffs sind breiter und höher überwölbt als in den übrigen Seitenschiffen und bilden zusammen mit der Rose, den seitlichen Fenstern im Giebel und der Lichtführung von oben ein Querschiff im Zentrum der Kirche, vor dem Chor mit Überschneidung mit dem Mittelschiff, aber ohne Ausbildung einer Vierung. An diesem Ort ist der Abstand zur Hauptorgel groß genug für eine Eigenständigkeit beider Orgeln bei gleichzeitigem akustischem und visuellem diagonalen Bezug. Dies entspricht, zusammen mit der einzelnen und gemeinsamen Spielbarkeit beider Orgeln, drei möglichen Positionen des flexiblen Spieltischs. Eine Position für den Spieltisch befindet sich direkt vor der Chororgel. Diese bildet zusammen mit dem Spieltisch und der Orgel ein Instrument, verstärkt damit die Querachse und gibt ihr einen Abschluss. Von der Position aus, in der Mitte der Kirche vor dem Chor, können die Organisten beide Orgeln zusammen sehen und hören. Von allen drei Positionen aus können die Orgeln gemeinsam mit Chor und Orchester gespielt werden.

Um die Baugeschichte erzählende Raumhülle der Kirche nicht anzutasten und die Orgel als Skulptur frei im Raum wirken zu lassen, ohne sie dabei zu weit in das Seitenschiff und das Querschiff und vor das Ostfenster dringen zu lassen, wurde die Orgelskulptur frei vor die Außenwand, aus dem Boden wachsend, gestellt. So ist die Chororgel auch vom Südwesteingang am Ende des Seitenschiffs und diagonal durch den Raum sichtbar, je nach Position im Raum mal mehr mal weniger, ohne das Raumgefüge zu stören.

Die Form der Chororgel wird bestimmt durch den gewählten Ort innerhalb des Kirchraums, die vertikale Symmetrieachse von Rose, beiden Seitenfenstern und unterer Ausgangstür, die Funktion als Gehäuse und Resonanzraum für die Musik aus dem Innenleben, ermöglicht durch die Orgeltechnik – diese geplant vom Orgelbaumeister Karl-Martin Haap, Werkstätte für Orgelbau Mühleisen GmbH, in enger Zusammenarbeit und gegenseitiger Wechselwirkung. Die Form ist die Visualisierung der Entstehung des Klangs aus dem Inneren, den Pfeifen im Prospekt und der Idee einer massiven Orgelskulptur aus rostigem Stahl und silbrigem, glänzendem und poliertem Feinzink.

Die fast samtige dunkelrötlichbraune, das Licht schluckende Oberfläche des rostigen Stahls soll gebunden kontrastieren mit der Oberfläche und Farbe des Sandsteins der Wände, des Bodens und den Holzintarsien unter den Bänken und harmonieren mit dem gesamten Farbklang, einschließlich der Ausstattung und der Kunst im Raum. Der Stahl für das Gehäuse ist, wie der alte Stein der Kirche, dem Boden der Erde entnommen. Deshalb hat er keine perfekt lackierte Oberfläche, sondern durfte und musste langsam, dem Wetter ungeschützt ausgesetzt, auf dem Werkhof der Firma Lams Stahlbau GmbH in Sarstedt bei Hannover natürlich rosten, so lange, bis es gut war. Im Kontrast zum rostigen Stahl des Gehäuses das Metall: Feinzink für die Prospektpfeifen, silbrig hell poliert, das Licht reflektierend, die Rundung verstärkend, die Schwere des Korpus mindernd. Für die Beurteilung des Standes der Rostung waren viele Reisen nach Sarstedt zum rostenden Orgelgehäuse und Geduld notwendig.

Die Form der Orgelskulptur wird gebildet aus einem vertikalen Stahlblock mit Aushöhlung unten für den Durchgang und schwebend vorgesetzter rechteckiger stahlgerahmter Platte, an allen Seiten überstehend, als Träger für die Prospektpfeifen. Die Pfeifen ganz leicht zur Mitte hin im Grundriss konkav, die vertikalen Linien der Pfeifen zur Mitte hin verdichtend, der Labienverlauf der Pfeifen parabelförmig zu den Rändern hin ansteigend, die Oberkante die Rose stützend, die Symmetrie der Architektur aufnehmend.

Mit dem gewählten Ort, den gewählten Materialien und der entwickelten Form wird die Chororgel im Sinn des gebundenen Kontrastes die Realisierung der Idee einer eigenständigen Orgel-Klang-Skulptur, gleichzeitig aber auch integrierter Teil der Architektur der Stadtkirche St. Reinoldi.

Bauabschnitt 2

Hauptorgel

mit angebautem Spieltisch auf der Orgelempore – mit Raum für 1 bis 2 Solisten

  • ŸJuni 2019: Abbau der ehemaligen Walcker-Orgel
  • ŸJahresbeginn 2021: Beginn der vorbereitenden Baumaßnahmen (Einbaueiner gläsernen Rückwand mit Durchblick zum Turmraum, Konstruktion einesrückseitigen Treppenzugangs für die Musiker)
  • Ÿ2. Jahreshälfte 2021: Bau und Installation der neuen Hauptorgel

Die Hauptorgel

Sie ist zweifellos eine echte Königin der Instrumente – ein exklusiv für St. Reinoldi konzipiertes kirchenmusikalisches Schmuckstück mit visuellen und klanglichen Qualitäten auf höchstem Niveau: ob als Soloinstrument oder im Zusammenspiel mit der Chororgel und weiteren Instrumentalisten und Sängern auf der Empore bzw. im Kirchenraum.

Als Skulptur korrespondiert die Orgel mit den architektonischen Gegebenheiten des gedrungenen Kirchenraums: aufstrebend, die Vertikale betonend, wirkt sie schlank, leicht und wie schwebend vor einer Glasrückwand. Die neue Orgel der Orgelbauwerkstätte Mühleisen ersetzt die defekte und nicht mehr reparierbare Nachkriegsorgel von 1958 und wird mit modernster, innovativer Orgeltechnik die Kirchenmusik an St. Reinoldi maßgeblich bereichern und aufwerten. Zu erwarten sind Raum-Klang-Erlebnisse mit überregionaler Ausstrahlung.

Standort: auf der Orgelempore über dem Westportal mit Durchgang zum Turmraum. Form und Schauseiten des Instruments werden unter Berücksichtigung der Vorgaben der Orgelbauwerkstätte und der Orgelsachverständigen konzipiert – Disposition, Größe, optimale Anordnung der Werke, Klangabstrahlung etc. – und in die vorhandene Architektur eingepasst. 

„Für den Entwurf der Hauptorgel war ein übergeordnetes Ziel, die Türanlage im Erdgeschoss einschließlich der Glastüren mit künstlerischer Gestaltung so in die Orgel zu integrieren, dass eine Einheit entsteht. Ein weiteres Ziel war, die Transluzenz der Glastüren auch im oberen Bereich der Orgel aufzunehmen und die Orgel als Skulptur in und vor die Laibung der Turmöffnung zum Kirchenschiff zu stellen.“
Architekturbüro Bernhard Hirche

Ein rückseitiger Treppenzugang für die Musiker entsteht: Anders als die vormalige Nachkriegsorgel von 1958 verfügt das neue Instrument über einen angebauten mechanischen Spieltisch und bietet aufgrund ihrer schlanken Form Raum auf der Empore für den Organisten und weitere Musiker. Offenheit und Transparenz ist Konzept: Die Empore erhält eine sprossenlose Glasbrüstung. Dahinter ist beidseitig des Spieltisches Platz für weitere Solisten.

Ausgestattet wird die neue Orgel mit vier Manualen (Hauptwerk, Oberwerk, Schwellwerk, Solowerk) und Pedal. Die Orgelpfeifen der 63 Register werden mit Hilfe einer mechanischen Spieltraktur vom angebauten Spieltisch aus zum Klingen gebracht. Alternativ können sie vom mobilen Spieltisch im Kirchenraum angesteuert werden – gemeinsam mit der Chororgel (und weiteren Instrumenten) oder separat.

„Die neue Orgel greift Stilelemente der 1945 zerstörten, hochgerühmten Walcker-Orgel von 1909 auf. In der neuen Hauptorgel finden aber auch über 20 brauchbare Register aus der Walcker-Orgel von 1958 eine Wiederverwendung, sodass das neobarocke Klangbild dieser Periode in Grundzügen erhalten bleibt.“
Werkstätte für Orgelbau Mühleisen


In Rückbesinnung auf die erste Walcker-Orgel von 1909 wird bald wieder die bisher nur bedingt darstellbare symphonisch-romantische Orgelmusik in St. Reinoldi erklingen. Zeitgemäße Orgelbau-Komponenten wie Windabsteller, Percussion- und Aliquotregister, frei programmierbare Koppeln etc. ermöglichen moderne und zeitgenössische Orgelmusik jeglicher Couleur. Der rechnergestützte elektronische Spieltisch im Kirchenraum gewährt Zugriff auf weitere externe Klangerzeuger.

Die Fertigstellung der neuen Hauptorgel ist für 2021 geplant.